Während einfache Interaktionsregeln erklären können, wie sich Tiergruppen gemeinsam bewegen, ist über die langfristige Stabilität sozialer Rollen in freier Wildbahn wenig bekannt – ebenso darüber, warum manche Tiere erfolgreicher kollektive Entscheidungen beeinflussen als andere. Um diese Dynamiken besser zu verstehen, untersuchte das Forschungsteam rund um Sonia Kleindorfer, ob einzelne Graugänse (Anser anser) über Jahre hinweg stabile Tendenzen zum Initiieren oder Folgen zeigen – und ob sich diese Rollen durch Persönlichkeitsmerkmale wie Mut, Aggressivität und Erkundungsfreude vorhersagen lassen.
Beobachtet wurde eine individuell markierte Grauganspopulation an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau im Almtal – eine Schar, die ursprünglich in den 1970er-Jahren von Nobelpreisträger Konrad Lorenz etabliert wurde. Über vier Jahre dokumentierten die Forscher*innen hunderte kollektiver Abflüge: Wer startete, wer folgte, wie groß waren die Gruppen? Parallel dazu wurden standardisierte Verhaltenstests durchgeführt – darunter Fluchtinitiationsdistanz (Mut), Reaktion auf einen Spiegel (Aggressivität) und der Umgang mit unbekannten Objekten (Erkundungsfreude). Ziel war es, besser zu verstehen, wie individuelle Unterschiede Bewegungsentscheidungen und den Informationsfluss in der Gruppe beeinflussen.
Mutige Influencer und erkundungsfreudige Follower
Die Studie liefert zwei zentrale Erkenntnisse: Erstens zeigen einzelne Graugänse über Jahre hinweg stabile Persönlichkeitsmerkmale – Mut, Aggressivität und Erkundungsfreude. Zweitens bewegen sie sich täglich in wechselnden Untergruppen zwischen verschiedenen Futter- und Schlafplätzen. Die Ergebnisse zeigen: Bei mutigen Individuen gibt es eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass andere ihrem Abflugruf folgen. Diejenigen, die folgen, sind meist erkundungsfreudig – und bevorzugen mutige gegenüber aggressiven oder dominanten Scharmitgliedern.
Die Schar steht täglich vor einem Zielkonflikt: Die Sicherheit vertrauter Orte gegen die potenziellen Vorteile unbekannter Gebiete. Mutige Persönlichkeiten helfen, dieses Risiko zu managen, indem sie Sicherheit bei Ausflügen in unsichere Umgebungen bieten. Erkundungsfreudige Individuen hingegen tragen zur Entdeckung neuer Möglichkeiten bei – und verbreiten Innovation durch soziales Lernen.
Entgegen der Erwartungen war Aggressivität kein Prädiktor für Einfluss während kollektiver Abflüge – obwohl aggressivere Gänse häufig höhere soziale Ränge einnehmen. Die einflussreichsten Influencer waren mutig, aber nicht aggressiv – ein Hinweis auf einen schützenden, nicht dominanten Führungsstil. Diese mutigen Individuen bieten Stabilität, während erkundungsfreudige Follower neue Chancen aufspüren und weitervermitteln.
Ein neuer Blick auf Influencer und Follower
„Diese Forschung hilft zu erklären, warum bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zu dauerhaftem Einfluss führen“, sagt Studienleiterin Sonia Kleindorfer. „Wichtiger noch: Sie lenkt den Blick auf die Follower – eine Gruppe, die in unserer menschlichen Fixierung auf Macht und Ressourcen oft übersehen wird. Was wäre, wenn Follower aktiv entscheiden, wem sie folgen, basierend auf dem Nutzen, den sie daraus ziehen? Das verschiebt den Fokus auf die kognitiven Fähigkeiten der Follower und stellt traditionelle Vorstellungen davon infrage, welche Eigenschaften im sozialen Einfluss zählen.“
Indem sie den Blick von aggressiven, dominanten Individuen – die oft durch Einschüchterung Einfluss gewinnen – hin zu den sozialen und kognitiven Strategien der Follower richtet, eröffnet diese Studie neue Perspektiven auf kollektive Entscheidungsfindung, soziales Lernen und kulturelle Evolution – nicht nur bei Graugänsen, sondern auch bei vielen anderen sozialen Tierarten, einschließlich des Menschen.
Mehr Infos über Gänse in der Rudolphina-Reportage über die Forschungsstelle im Almtal oder im auch Video.
Originalpublikation:
Personality predicts collective behavior in greylag geese: influencers are bold and followers are exploratory. Sonia Kleindorfer, Andrew C. Katsis, Didone Frigerio, Jonas Lesigang, Dina Mostafa, Lauren K. Common. In iScience.