Wenn Eis schmilzt, geht alles ganz schnell: Sobald die Schmelztemperatur erreicht ist, verwandelt sich die feste, geordnete Struktur des Eises abrupt in das flüssige, ungeordnete Wasser. Ein solcher sprunghafter Übergang ist typisch für das Schmelzverhalten aller dreidimensionalen Materialien, von Metallen über Mineralien bis hin zu gefrorenen Getränken.

Wenn ein Material jedoch so dünn wird, dass es praktisch zweidimensional ist, ändern sich die Regeln des Schmelzens drastisch. Zwischen der festen und der flüssigen Phase kann eine neue, exotische Zwischenphase der Materie entstehen, die als „hexatische Phase“ bezeichnet wird. Diese hexatische Phase, die erstmals in den 1970er Jahren vorhergesagt wurde, ist ein seltsamer Hybridzustand. Das Material verhält sich wie eine Flüssigkeit, in der die Abstände zwischen den Teilchen unregelmäßig sind, aber bis zu einem gewissen Grad auch wie ein Festkörper, da die Winkel zwischen den Teilchen relativ gut geordnet bleiben.

Da diese Phase bislang nur in wesentlich größeren Modellsystemen wie dicht gepackten Styroporkugeln beobachtet wurde, blieb bislang offen, ob sie auch in alltäglichen kovalent gebundenen Materialien auftreten kann. Genau dieser Nachweis gelang dem internationalen Forschungsteam unter der Leitung der Universität Wien nun: Die Wissenschafter*innen konnten diesen Prozess bei atomar dünnen Kristallen aus Silberiodid (AgI) erstmals beobachten und damit ein jahrzehntealtes Rätsel lösen. Ihre Ergebnisse bestätigen nicht nur die Existenz dieses schwer fassbaren Zustands in stark gebundenen Materialien, sondern liefern auch überraschende neue Erkenntnisse über die Natur des Schmelzens in zwei Dimensionen.

„Graphen-Sandwiches“ machen die neue Beobachtung möglich

Um diesen Durchbruch zu erzielen, entwickelten die Forscher*innen eine raffinierte Methode zur Untersuchung des Schmelzprozesses von zerbrechlichen, atomar dünnen Kristallen. Sie betteten eine einzelne Schicht eines Silberiodid-Kristalls zwischen zwei Schichten von Graphen ein. Dieses schützende „Sandwich“ verhinderte, dass sich der empfindliche Kristall während des Schmelzprozesses in sich selbst zusammenfaltete. In einem hochmodernen Raster-Transmissionselektronenmikroskop (STEM)erhitzte das Team die Probe schrittweise auf über 1.100 °C und filmte den Schmelzprozess in Echtzeit auf atomarer Ebene.

„Ohne den Einsatz von KI-Tools wie neuronalen Netzen wäre es unmöglich gewesen, all diese einzelnen Atome zu verfolgen“, erklärt Kimmo Mustonen von der Universität Wien, Seniorautor der Studie. Das Team trainierte das Netzwerk mit riesigen Mengen simulierter Datensätze, bevor es die Tausenden von hochauflösenden Bildern verarbeitete, die durch das Experiment erzeugt wurden.

Ihre Analyse ergab ein bemerkenswertes Ergebnis: Innerhalb eines engen Temperaturfensters – etwa 25 °C unterhalb des Schmelzpunktes von AgI – trat eine deutliche hexatische Phase auf. Ergänzende Elektronenbeugungsmessungen bestätigten diesen Befund und lieferten starke Hinweise auf die Existenz dieses Zwischenzustands in atomar dünnen, stark gebundenen Materialien.

Ein neues Kapitel in der Physik des Schmelzens

Die Studie brachte auch eine unerwartete Wendung zutage. Nach den bisherigen Theorien sollten die Übergänge von fest zu hexatisch und von hexatisch zu flüssig jeweils kontinuierlich erfolgen. Die Forscher*innen beobachteten jedoch, dass der Übergang von fest zu hexatisch zwar tatsächlich kontinuierlich verlief, der Übergang von hexatisch zu flüssig jedoch abrupt erfolgte, ähnlich wie beim Schmelzen von Eis zu Wasser. „Dies deutet darauf hin, dass das Schmelzen in kovalenten zweidimensionalen Kristallen weitaus komplexer ist als bisher angenommen“, sagt David Lamprecht von der Universität Wien und der Technischen Universität (TU) Wien, einer der Hauptautoren der Studie neben Thuy An Bui, ebenfalls von der Universität Wien.

Diese Entdeckung stellt nicht nur langjährige theoretische Vorhersagen in Frage, sondern eröffnet auch neue Perspektiven in der Erforschung von Materialien auf atomarer Ebene. „Kimmo und seine Kolleg*innen haben erneut gezeigt, wie leistungsfähig die atomar aufgelöste Mikroskopie sein kann“, sagt Jani Kotakoski, Leiter der Forschungsgruppe an der Universität Wien.

Die Ergebnisse der Studie vertiefen nicht nur unser Verständnis vom Schmelzen in zwei Dimensionen sondern unterstreichen auch das Potenzial fortschrittlicher Mikroskopie und KI bei der Erforschung der Grenzen der Materialwissenschaft.

Zusammenfassung:

  • Wenn ultradünne Materialien schmelzen, gehen sie nicht unmittelbar von fest zu flüssig über, sondern durchlaufen einen Zwischenschritt – die sogenannte „hexatische Phase“. Das von der Uni Wien geleitete Team hat diesen Prozess nun erstmals bei atomar dünnen Kristallen aus Silberiodid (AgI) beobachtet.
  • Dazu betteten die eine einzelne Schicht eines Silberiodid-Kristalls in ein schützendes „Graphen-Sandwich“ ein und analysierte den Prozess mit Hilfe  neuronalen Netzen.
  • Durch diese innovative Methode ist der Nachweis gelungen: Innerhalb eines engen Temperaturfensters – etwa 25 °C unterhalb des Schmelzpunktes von AgI – trat eine deutliche hexatische Phase auf.
  • Die Physiker*innen zeigten, dass der Übergang von fest zu hexatisch – wie vorhergesagt – kontinuierlich verlief, der Übergang von hexatisch zu flüssig jedoch entgegen den bisherigen Theorien abrupt erfolgte, ähnlich wie beim Schmelzen von Eis zu Wasser.
  • Mit diesen neuen Erkenntnissen erweitern die Wissenschaftler*innen unser Verständnis von Phasenübergängen in realen Materialien und stärken damit die Grundlage, auf der zukünftige Entwicklungen in der Materialwissenschaft aufbauen können.